Frl Yvi – der Brief

Zeichnung: Dominik Voss

Frl.Yvi, Frl.Yvi – der kleine Bub aus der Nachbarswohnung ruft ganz laut hinter Yvi her und schwenkt einen Brief in seiner Hand.
“Der gehört Dir” schnauft der dickliche Junge, als er Yvi endlich eingeholt hat.
Yvi schaut das weiße Kuvert erstaunt an und überlegt, wer ihr denn einen Brief schreiben könnte, mit der Schneckenpost, wie sie in der Kanzlei diese Art der Briefbeförderung nennen.
Yvi bedankt sich bei dem Buben, der mit hochrotem Kopf vor ihr steht und offenbar neugierig wäre, was da in dem Brief steht.
Aber Yvi verstaut den Brief erstmal in ihrer großen Tasche und nimmt sich vor ihn daheim dann zu lesen.
Erst muss sie die Einkäufe für die Großmutti erledigen und dann mit der Bahn zur Reha-Station fahren um eben diese Dinge der Großmutti zu bringen.
Die alte Dame braucht ungewöhnlich lange zur Erholung ihres Oberschenkelhalsbruches und Anna und Yvonne vermute, dass es ihr, nach anfänglichen Gemecker, einfach zu gut gefällt, in der modernen Klinik.
Das Personal dort ist überaus zuvorkommend und umsorgt die Leute wirklich optimal.
Zwischendurch schaut Yvi immer wieder mal auf ihr Smartphone, ob eine Nachricht von Mo gekommen ist.
Leider meldet er sich nur alle paar Tage, er ist wirklich sehr beschäftigt, unternimmt viel mit seinem Freundeskreis und denkt daher nicht so oft an Yvi, wie sie es gerne hätte.
Auch Patrick meldet sich ab und zu, erzählt aber immer wie schlecht es ihm gehe.
Wenn Yvi ehrlich ist, nervt sie das schon ein wenig, sie mag ihm nicht immer nur gut zureden, weil sie das Gefühl hat, es bringt ohnehin nichts. Patrick möchte so gerne seine Beziehung mit seiner Freundin retten und sie hat anscheinend gar kein Interesse mehr an ihm, was er aber nicht zu sehen scheint.
Zu Hause angekommen schlüpft Yvi schnell unter die Dusche und macht es sich dann auf dem Sofa bequem.
Plötzlich fällt ihr der Brief in ihrer Tasche ein.
Ehe sie ihn öffnen kann, läutet ihr Handy und Mo, den sie schon einige Tage nicht gehört und gesehen hat, meldet sich endlich.
“Hallo, Prinzessin” – über Yvis Gesicht huscht ein breites Lächeln, er nennt sie immer noch Prinzessin und er möchte heute noch mit ihr ausgehen. Yvi denkt zwar kurz nach, dass sie nach Kanzlei und Großmutti doch sehr müde ist, sagt dann aber doch zu, weil sie befürchtet, dass es sein könnte, dass sie Mo dann wieder tagelang nicht sehen würde.
Das weiße Kuvert, mit auf der Maschine geschriebener Adresse und ohne Absender, liegt immer noch auf dem Tisch.
Yvi will nun doch wissen, was da drin steht und öffnet mit einem spitzen Messer den Brief.
Es ist eine Einladung zu einem Klassentreffen.
“Oh nein” – entfährt es Yvi kopfschüttelnd. Sie ist überzeugt, dass sie da nicht hingehen wird.
Als sie ihre Schulkolleginnen zuletzt gesehen hat, hatte sie gut 15 kg weniger und sie weiß wie die Klassenkameradinnen sein können, wenn jemand in ihren Augen zu dick ist.
Sie wirft den offenen Brief auf den Tisch, geht sich anziehen und schminkt sich ein wenig und freut sich auf den Abend mit Mo, der auch schon an der Tür klingelt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert